Die Verbindung zwischen Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaften

KBL+Dogrün

Pädagogisch-psychologischer Ratgeber für:

  • Kinderbücher
  • Jugendbücher
  • Sachbücher
  • Neue Medien

Weblog Neuropädagogik

Weblog Neurowissenschaften

Mailinggruppe: Neuropädagogik

update

28.04. 2008

Neuro6

www.neuropaedagogik.de

Forschung

 

Elefant

Abb. 1: „Elefantengleichnis“, Quelle unbekannt

Fachwissenschaftler an einem Untersuchungs-gegenstand - die Erkenntnis ist jeweils anders:

Das Bild beschreibt ein Gleichnis von Hampden-Turner "Sechs blinde Weise versuchen, einen Elefanten durch Tasten zu erkennen. Der erste fühlt seinen Stoßzahn und vergleicht den Elefanten mit einem Speer. Der zweite ertastet die Flanke und beschreibt ihn als Wand. Der dritte hat ein Bein vor sich, was ihn auf die Ähnlichkeit mit einem Baum verweisen läßt. Der vierte fühlt den Rüssel und vergleicht den Elefanten mit einer Schlange, der fünfte betastet das Ohr und zieht den Vergleich mit einem Fächer; der letzte schließlich gerät an den Schwanz und besteht auf der Ähnlichkeit mit einem Seil. Das Ergebnis ist ein großer Streit: Jeder beharrt auf seinen Erkenntnissen – jeder hat recht, was den jeweiligen Körperteil betrifft, und alle haben unrecht, weil keiner das Tier als Ganzes erfaßt hat."

Hampden-Turner 1983, zit. nach Schräder-Naef 1993, S. 22 in Schräder-Naef, Regula D.: Informationsflut. 3., überarb. u. erg. Aufl. – Weinheim: Beltz Quadriga 1993

Wissenschaftliche Spezialisierung und ihre Folgen

  1. Das Spezialisierungsproblem – Überblicksverlust durch Detailgenauigkeit ?
  2. Das Theorieproblem: Problemlösung durch eine „Verbundtheorie“ oder befinden wir uns in einem Entscheidungsdilemma ?
  3. Das Methodenproblem
  4. Das Forscher- oder Versuchsleiterproblem
  5. Das Einigungsproblem: Wissenschaftliche Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten
  6. Das Professionalitätsproblem: das Dilemma zwischen Fachprofessionalität und „umfassender“ Nicht-Professionalität
  7. Nicht genannte weitere Probleme

1. Das Spezialisierungsproblem – Überblicksverlust durch Detailgenauigkeit ?

Das Gleichnis veranschaulicht meines Erachtens sehr treffend die Spezialisierung in den Wissenschaften. Die Wissenschaften unterteilen aufgrund ihrer Wissenschaftstruktur die Betrachtungsperspektiven ihres Untersuchungsgegenstandes.

Ein Beispiel aus der Psychologie: In den Disziplinen „Emotionspsychologie“, „Motivationspsychologie“, „Gedächtnispsychologie“, „Lernpsychologie“, „Kognitive Psychologie“, „Persönlichkeitspsychologie“, werden letztendlich künstliche Unterteilungen des Untersuchungsgegenstandes „Mensch“ produziert, welche wiederum zu isolierten Betrachtungen der „Eigenschaften des Menschseins“ führen. Bleibt man im Bild des o.g. Gleichnisses, so betrachten wir im Bereich der Neuropsychologie den Menschen mit dem (Elektronen-)Mikroskop, d.h. aus der Nanoperspektive. Vorteil dieser Betrachtungsweise ist, dass die Neuropsychologie quasi die „Hardware“ (= die biologischen Grundlagen) untersucht. Die o.g. klassischen psychologischen Disziplinen gehen von einer deskriptiv-empirischen Perspektive aus. Die Neuropsychologie untersucht die biologischen Voraussetzungen, welche die eigentliche Ausgangsbasis für Forschung und Theorieentwicklung bilden sollte. Ich nehme hier die „Computermetapher“ als Beispiel: Software kann immer nur auf der Basis der gegebenen Möglichkeiten der sog. Hardware erfolgen: Die Hardware bestimmt die Möglichkeiten und Grenzen, sowie die Praktikabilität der Software. Psychologisch: Es ergeben sich anhand der biologischen Daten neue Möglichkeiten, abzuschätzen, ob deskriptiv gewonnene Annahmen mit der biologisch gegebenen Struktur des menschlichen „Denkapparates“ überhaupt in Einklang stehen.

2. Das Theorieproblem: Problemlösung durch eine „Verbundtheorie“ oder befinden wir uns in einem Entscheidungsdilemma ?

Nun stellt sich die Frage, ob wir den Elefanten (Menschen) in seiner physischen und psychischen Erscheinung –ohne die bisher praktizierte Hinzunahme biologischer Daten - voll erfasst haben ? Würde die Zusammenfassung aller Theorien und empirischen Ergebnisse der psychologischen Teilgebiete, unter Abgleich der biologisch vorgegebenen Strukturen, eine Gesamtvorstellung ergeben ? Falls eine solche „Verbundtheorie“ ggf. mit Hilfe künstlicher Intelligenzen möglich wäre, wären wir dann mit unsere begrenzten Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten in der Lage eine derart komplexe Theorie verstandesmäßig zu erfassen ?

Diese Überlegungen veranschaulichen die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Deutlich wird das Dilemma zwischen Detailgenauigkeit und der Erfassung der Komplexität des Ganzen.

3. Das Methodenproblem

Und noch ein weiteres Problem stellt sich: Je nachdem, ob wir nur mit bloßen Händen, mit einer Lupe oder einem Seziermesser untersuchen, es ergeben sich unterschiedliche Resultate. Können die Schlussfolgerungen welche wir hieraus ziehen, tatsächlich eine genaue Beschreibung liefern ?

4. Das Forscher- oder Versuchsleiterproblem:

Untersuchungsgegenstand in der Psychologie sind wir selbst. Wir erforschen unsere Fähigkeiten, Eigenheiten, Möglichkeiten und Grenzen damit nicht aus der Distanz. Forscher (Versuchsleiter) und Forschungsobjekt(Versuchsobjekt) sind gewissermaßen identisch.

Neigen wir zur Selbstüber- oder Selbstunterschätzung über unsere eigenen Begrenzungen und Fähigkeiten, so hat dies bereits im Vorfeld seine Konsequenzen. (Beispiel einer Selbstunterschätzung könnte die Negierung des “Freien Willens” durch einige Neurowissenschaftler sein. Das Beispiel einer Selbstüberschätzung könnte die Annahme sein, dass wir in der Lage seien, sämtliche Prozesse des Lernens und Denkens erfassen zu können und daraus für jede Lebenssituation angemessene Ratschläge ableiten zu können)

In der Neurophilosophie werden diese Fragen der Erste- vs. Dritte-Person-Perspektive („Das Gehirn kann nur mit dem Gehirn selbst erfasst werden“) ausführlich diskutiert:(siehe: Northoff, Georg (2000), Seite 13 und 13 ff., Das Gehirn – Eine neurophilosophische Bestandsaufnahme, Mentis Verlag, Paderborn).

Das Schaubild veranschaulicht diesen Sachverhalt ohne Worte:

Selbstreflexion

Erste-versus Dritte-Person-Perspektive - Quelle unbekannt

5. Das Einigungsproblem: Wissenschaftliche Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten

Jede wissenschaftliche Disziplin verfügt über eine eigene Nomenklatur, spezielle Methoden und zeitgeschichtlich variierenden Paradigmen. Die Herangehensweisen an den Untersuchungsgegenstand sind ebenfalls völlig unterschiedlich. Die Soziologen z.B. interessieren sich nicht speziell für jenen einzelnen Elefanten. Sie interessieren sich für diesen Elefanten vielmehr aus der „Vogelperspektive“: ein einzelner Elefant wird quasi zu einem Punkt auf der Landkarte seines Lebensraumes. Das Individuum interessiert, im Gegensatz zu seinem Leben im sozialen Gefüge der Elefantenherde, kaum. Die Psychologen betrachten den Elefanten aus der Nähe und die Neuropsychologen interessieren sich für die Vorgänge im Elefanten, den von der biologischen Natur aus gegebenen Möglichkeiten und Grenzen.

Geisteswissenschaftler versuchen den Elefanten als Ganzes zu verstehen und ergänzen im Idealfall ihre Wahrnehmung durch die Erkenntnisse der Soziologen, Psychologen und Neurowissenschaftler. Sie stehen vor dem Problem die verschiedenen Perspektiven zu kennen und die jeweiligen Fachsprachen ohne Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu verstehen. Um jedoch Kenntnisse für ihr „erzieherisches“ Handeln zu gewinnen, müsse die (Er-)Kenntnisse der Disziplinen miteinander in Einklang gebracht werden.

5. Das Professionalitätsproblem: das Dilemma zwischen Fachprofessionalität und „umfassender“ Nicht-Professionalität

Die starke Ausdifferenzierung in den Wissenschaften führt zu einer „Teil-Fachprofessionalität“ in Detailgebieten einer Wissenschaftsdisziplin und zu einer „Semiprofessionalität“ innerhalb der eigenen Hauptdisziplin. 

In den Worten der Metapher ausgedrückt: wer am Ende des Rüssels sitzt, hat hiervon Kenntnisse. Für die anderen Bereiche (Beine, Rücken, Augen....) ist er auf die Mitteilung der anderen Spezialisten angewiesen. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Spezialisten untereinander nicht auf dieselbe Art die Dinge wahrnehmen und interpretieren. So verfügen Geisteswissenschaftler über eine andere “Fachsprache” als Naturwissenschaftler.

Ein Beispiel für ein deratiges Verständigungsproblem: Der “freie Wille” wird in den Neurowissenschaften völlig anders interpretiert, als in der originär für den freien Willen “zuständigen” Wissenschaftsdiziplin, der Philosophie. Dies führt - da der abstrakte Begriff des “freien Willens” in den Diskussionen undefiniert bleibt, zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen auf beiden Seiten)

Sofern die Untersuchenden aus einer Fachdisziplin (hier: der Psychologie) stammen, so wird es voraussichtlich weniger Verständigungsprobleme geben.

In der Realität gilt allerdings, dass die biologische Psychologie eine rasante Entwicklung genommen hat, eine eigene „medizinische Fachsprache“ entwickelt hat und sich vornehmlich mit klinischen Fragen beschäftigt. In der Sprache der Physik ausgedrückt entsteht hier ein Konflikt zwischen „Nano“- und Mikroperspektive“ und dies innerhalb einer zusammengehörenden Fachdisziplin.

Welche Professionalitäts bzw. Professionalisierungsmöglichkeiten bleiben unter Berücksichtigung dieser Aspekte für einen Geisteswissenschaftler (Pädagogen) übrig ?

Ich meine, dass er zur Teil- oder gar Nicht-Professionalität gezwungen ist: Der Pädagoge ist auf die Ergebnisse seiner „Hilfsdisziplinen“ (Soziologie, Philosophie, Psychologie und neuerdings Neurowissenschaften) angewiesen. Die Hilfsdisziplinen besitzen, wie oben beschrieben keine homogene Struktur. Bereits innerhalb der Hilfsdisziplinen werden Annahmen, Theorien und Ergebnisse kontrovers diskutiert. Die Fülle der vielen Daten und Details zwingt bereits innerhalb der Hilfsdisziplinen zur Vereinfachung und Komplexitätsreduktion. Diese Vereinfachung führt dann im Ergebnis wieder zu oberflächlichen Kenntnissen. Dieser „oberflächliche“ Wissensfundus wird dann von Pädagogen verwertet und bietet dann die Basis für erzieherisches Handeln.

FAZIT:

Forscher definieren ihre Wissenschaft in Paradigmen, welche im jeweiligen historischen Kontext gesehen werden müssen. Das jeweils „gültige“ Paradigma enthält die Meinung einer Mehrheit der „science community“. Es ist das zu einer gegebenen Zeit akzeptierte Wissen. Basis dieses Wissens sind – je nach verwendeten Paradigmen – mit unterschiedlicher Betonung und Schwerpunktsetzung, empirisch belegte Erkenntnisse, methodologische oder philosophische Überzeugungen und Einstellungen.

Die britische Philosophin Mary Midgley (Midgley, Mary, (1992) Science as Salvation:A Modern Myth and Its Meaning, Routledge, ISBN 0-415-06271-3)kommt zu dem Schluss, dass die moderne Wissenschaft weltanschaulich überfrachtet sei, denn es werde ein universeller Erklärungsanspruch erhoben, ohne ihn tatsächlich erfüllen zu können. Ein Entrinnen aus einem Mindestmaß an weltanschaulicher Bindung wissenschaftlicher Erkenntnis scheint unmöglich zu sein. (vgl. Rorty, Richard, (1988), Solidarität oder Objektivität- Drei philosophische Essays, Reclam Verlag, Stuttgart)Die Wissenschaftstheorie als eigene Disziplin versucht dieses Problem theoretisch zu reflektieren. Der Anspruch des Rationalismus, Wissen durch einen klaren Beweis sichern zu können, endet im sog. „Münchhausen-Trilemma“ (Albert,Hans (1987) Kritik der reinen Erkenntnislehre, Mohr Verlag, Tübingen) .

So benötigt jede Begründung eine erneute Begründung. Ein Ende (Letztbegründung) lässt sich angesichts der bestehenden Komplexität der Wissensgegenstände nicht ermitteln.

Damit gerät man in einen unendlichen Regreß (die Begründung, der Begründung einer Begründung...). Möchte man diesen unendlichen Regreß abbrechen, geht dies nur durch einen Abbruch, einer letzten Begründung mit absolutem Wahrheitsanspruch (Dogma). An dieser Stelle dürfte die Frage nach der weltanschaulichen Bindung von Wissenschaft anzuknüpfen sein.

Eine weitere Möglichkeit ist der sogenannte logische Zirkel: Begründungen werden durch erst noch zu beweisende Hypothesen gegeben. Diese wird durch eine andere Hypothese gestützt, welche wiederum auf einer weiteren Hypothese aufbaut...

Das Münchhausen-Trilemma in der Übersicht

  • 3. Der unendliche Regreß:
  • Eine abschließende Begründung einer „wissenschaftlichen“ Feststellung, bedarf einer Begründung. Diese Begründung muss jedoch selbst „begründet“ sein. Das Ende der Begründung der Begründung und deren Begründung...., lässt sich unendlich fortsetzten.
  • 2. Der dogmatische Abbruch:
  • Die oben genannte Begründungskette lässt sich z.B. durch einen vorgeschriebenen, d.h. dogmatischen „Lehrsatz“ abbrechen. Die Begründung wird für selbstverständlich erklärt, ohne, dass diese begründet wird.
  • 1. Der logische Zirkel
  • Begründungen werden durch Sätze gegeben, welche nicht bewiesen sind bzw. auf Annahmen beruhen. D.h. Scheinerklärungen ersetzen bewiesene Begründungen. Im Gegensatz zum unendlichen Regreß wird der Kreis durch eine Wechselbeziehung zwischen Begründung und Scheinbegründung, d.h. einem logischen Zirkel, geschlossen.
Münchhausen2

Abb.3: Münchhausen-Trilemma (Albert 1987) dtv-Atlas zur Philosophie, 6. überarb. Aufl. 1996, Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Problem der Übertragung neuropsychologischen Wissens auf pädagogische Sachverhalte (Thema: Lernen )

Die Wissenschaft ist also weder in der Lage, Phänomene vollumfänglich, noch unumstößlich zu begründen. Die Beschäftigung mit neuropsychologischen Grundlagen des Lernens, führt zu einer Detailanalyse und im Ergebnis, damit auch zu einer ungleichgewichteten, Darstellung.(vgl. Paschen, Harm (1992), Seite 150, Aufgaben und Instrumente einer argumentativ disziplinierten Erziehungswisschenschaft in: Harm Paschen, Lothar Wigger: Pädagogisches Argumentieren, Deutscher Studien Verlag, Weinheim)) Denn sie „spreizt“ die Betrachtung der biologischen Grundlage des Lernens und führt damit zu einer Überbetonung eines einzelnen Wissenschaftsbereiches. Die Darstellung neuropsychologischer Grundlagen für das Lernen insbesondere in der Grundschule soll dem Ziele dienen, bisherige Aussagen zum Lernen zu erweitern und mittels des biologisch-naturwissenschaftlichen Zuganges Aussagen mit „höherer praktischer Plausibilität“ (Ebd. Paschen, Seite 143)zu ermöglichen.

FAZIT:

Um die argumentative Basis pädagogischen Handlungswissens innerhalb der verschiedenen Disziplinen zu rezipieren und abzugleichen, wäre eine Überwindung fachwissenschaftlicher Begrenzungen sehr sinnvoll. Sie könnte durch verstärkte intra- und interdisziplinäre Kommunikation verbessert werden. Ziel jener Kommunikation sollte eine für Pädagogen verwertbare Theorienentwicklung sein.: Gegengewicht zur steigenden Ausdifferenzierung innerhalb der Fachdisziplinen könnte die Sammlung und Integration der Einzelergebnisse in gesamttheoretische Modelle bilden.

Jene schlüssigen und in sich logischen gesamttheoretischen Modelle könnten eine sinnvolle Arbeitsbasis für erziehungswissenschaftliche Theoriebildung und ihren Übertrag in die Praxis liefern.

 

[Neuropädagogik] [Was ist NP?] [Fachliteratur] [Einführung NP] [Forschung] [Grenzen] [Guter Unterricht] [Päd. Psychologie] [Neurophilosophie] [Über mich]

  Monika Armand --  Diplom Pädagogin -- Dürkopstr. 20 -- 33790 Halle (Westf.) --  Email: MonikaAr(at)web.de